Donnerstag, September 02, 2010

„Kommt schnell her!“ Der digitale Bürgeraufstand

Deutschland im Herbst 2010. Es wird kühler. Zwei gegenläufige Phänomene machen sich bemerkbar: Auf der einen Seite der Wunsch nach mehr Einfluss auf die Politik durch Bürgerinnen und Bürger und auf der anderen Seite die Hilflosigkeit der politischen Akteure, mit der weiter fortschreitenden Globalisierung und Digitalisierung umzugehen, um Freiheit, Wachstum und Sicherheit als zentrale Politikziele auch künftig zu gewährleisten.

Es begann mit dem Volksbegehren für mehr Nichtraucherschutz in Bayern, wurde in Hamburg mit dem Thema Schulreform fortgesetzt, verstärkte sich in Stuttgart unter dem Begriff S21 und wird voraussichtlich in NOlympia mit Blick auf die deutsche Bewerbung für die übernächsten olympischen Winterspiele seine Fortsetzung finden: Bürgerinnen und Bürger machen verstärkt Druck auf die Politik. Sie sind weitgehend auch erfolgreich, weil sie Dank des Internets über machtvolle Instrumente zur Artikulierung und Mobilisierung verfügen. Gerade bei den Protesten gegen den neuen Hauptbahnhof in Stuttgart wird dies besonders deutlich. Die Gegner des Bahnhofprojektes Stuttgart21 organisieren sich hauptsächlich über das Internet. Es werden alle Möglichkeiten des Web 2.0 verwendet: Youtube, Twitter, Blogs, Flickr, Feeds, Soziale Netzwerke und Bookmarks. Diese schnelle und unkomplizierte Technik ermöglicht den Organisatoren, immer wieder Zehntausende von Demonstranten aufzufordern, an den Veranstaltungen vor dem Bahnhof teilzunehmen. Im Minutentakt werden auf Twitter Nachrichten versendet, Alternativvorschläge auf der Website www.kopfbahnhof-21.de dargestellt. Auf dieser Seite befindet sich auch ein Aufruf, einen Appell an Ministerpräsident Mappus und weitere Politiker zu unterzeichnen die nächsten Redner zu den Montagsdemos werden angekündigt, Bilder vom Abriss des Teils des Nordflügels sowie neue Expertisen u.a. vom Bundesumwelt veröffentlicht. Neue Unterstützer stellen sich vor, Flyer, Plakate und Postkarten werden angeboten. Auch ein Spendenaufruf befindet sich auf der Seite. Ein Mini-Banner zählt die Tage bis zur Landtagswahl im Frühjahr 2011.

Auf der Seite www.parkschuetzer.de können sich Bürgerinnen und Bürger zur Torwache registrieren lassen und sich für eine Engagementstufe entscheiden. Es gibt die Stufen Grün, Orange und Rot. Bei der Stufe Grün haben sich über 22.000 Personen eingetragen, bei der Stufe Rot über 2.000. Rot bedeutet im Ernstfall bereit zu sein, sich auch den Baufahrzeugen in den Weg zu stellen oder sich an Bäume ketten zu lassen. Auf der Seite sind auch Livedaten sichtbar, zum Beispiel wieviel Parkschützer sich derzeit an der Torwache befinden.

Die Seite www.leben-in-stuttgart.de verweist u.a. auf den Stuttgarter-Appell für ein sofortiges Moratorium (http://stuttgarterapell.de/) der elektronisch unterzeichnet werden kann. Fast 40.000 Menschen haben dies bereits getan. Webcams zeigen aktuelle Aufnahmen vom Hauptbahnhof.

Die Seite www.dialog-21.de stellt “unverblümte Argumente dar, die zählen” in einer Art Laufband mit Plakaten. So heißt es auf einem Plakat “Es stimmt, dass ein Teil des Schloßgartens über Jahre hinweg Baustelle sein wird. Es stimmt aber auch, dass dadurch Bildung und Kultur fehlt, die eine moderne Großstadt ausmachen”. Die Seite ist einer Kampagne “Die guten Argumente überwiegen” der Befürworter nachgemacht, sie dreht praktisch die Pro-Argumente der Befürworter “um”.

Die Bahnhofsbefürworter des neuen unterirdischen Hauptbahnhofes versuchen im Web unter
www.das-neue-herz-europas.de die Bürgerinnen und Bürger für den Umbau des Stuttgarter Bahnhofs zu gewinnen. Jedoch werden hier keine interaktiven Anwendungen benutzt. Ausführlich werden auf der Seite die Ziele und die Projektdetails dargestellt. Bilder vom Abtragen der Mauern des Nordflügels werden veröffentlicht. Auch einige Statements zum Bahnprojekt befinden sich auf der Seite, Selbsteintragungen sind aber nicht möglich. Die offizielle Stuttgart-Seite www.Stuttgart.de veröffentlicht einen Offenen Brief von Oberbürgermeister Dr. Wolfgang Schuster. Es gibt einen Verweis auf eine Unterseite im städtischen Webangebot, die wiederum auf die Seite www.bahnprojekt-stuttgart-ulm.de verweist. Sie ist identisch mit der URL: www.das-neue-herz-europas.de Der Verein proStuttgart21 hat die Seite [url=www.prostuttgart21.de]www.prostuttgart21.de[/url] geschaltet. Rund 1000 Bürgerinnen und Bürger sind dort als Unterstützer verzeichnet.

Noch vor wenigen Jahren waren derartige Mobilisierungskampagnen nur mit hohem organisatorischem und finanziellem Aufwand möglich. Einladungen mussten gedruckt und aufwendig verteilt werden, Berichterstattungen erfolgten fast ausschließlich über existierende und weitgehend etablierte Medien. Heute haben es die Protestierer verstanden, dass Register der Web 2.0 Welt voll zu ziehen. Das Beispiel Stuttgart zeigt, dass Politik, Verwaltung und Betreiber gut beraten sind, sich intensiver diesen neuen Medien zuzuwenden. Die Menschen erwarten Informationen und Argumente auf neuen Wegen auch von ihrer Verwaltung.

Seitenwechsel. Das aktuelle Google Street-View Projekt – das Unternehmen veröffentlicht in Kürze im Internet realen Häuseransichten zunächst der 20 größten deutschen Städte - macht deutlich, wie sich die reale und die digitale Welt immer mehr vermischen und damit auch die Politik vor neue Herausforderungen stellt.

Die Verknüpfung von Netz und Raum steckt noch in den Kinderschuhen. Doch die ersten Vorboten zeigen, dass Realität und Virtualität künftig immer mehr “übereinander gelegt” werden. Die mobile Kommunikation ist auf dem Weg, realen Objekten eine Art “digitale Haut” überzustülpen, die dem Nutzer ein weites Feld von Interaktionen bezogen auf die dargestellten Objekte ermöglicht. Dieser Entwicklung schaut die Politik weitgehend hilflos zu. Erst durch öffentlichen Druck erwacht sie aus dem digitalen Winterschlaf. Das Thema Google Street-View ist mit all den rechtlichen Fragestellungen nicht neu. Bereits in 23 Ländern ist dieser Dienst eingeführt worden. Dass auch Deutschland als wichtiger Markt von IT-Unternehmen nicht ausgenommen bleibt, dürfte hinlänglich bekannt gewesen sein. Aber erst jetzt beginnt die deutsche Politik, sich damit zu beschäftigen. Ziemlich spät.

Seit Jahren zeichnet sich ab, dass die digitale Welt sich ihre eigenen Hoheitsbereiche schafft. Nationale gesetzliche Rahmenbedingungen sind in der globalisierten Welt weitgehend wirkungslos. Das kann man bedauern oder beklagen, aber es ist Realität. In einer der letzten Ausgaben der renommierten Zeitschrift „The Economist“ wurde der Frage nachgegangen, ob Facebook, Google und Co. nicht längst eigene Staaten im globalen Cyberspace seien. Facebook ist mit seinen mittlerweile mehr als 500 Millionen weltweiten Nutzern (“Einwohnern”) der “drittgrößte Staat” nach China und Indien. Rechtliche Fragen wie die nach dem Datenschutz berühren bei diesem Dienst gleich eine halbe Milliarde Menschen in vermutlich mehr als 150 Staaten aus unterschiedlichsten Rechts- und Kulturkrei-sen. Das fordert die globale Staatenwelt heraus.

Deutschland hat es versäumt, sich frühzeitig um eine aktive Netzpolitk zu kümmern. Diesen Vorwurf muss man der Politik machen. Das Beispiel Google Street-View zeigt, wie unkoordiniert die Bundesregierung dieses Thema angegangen ist. Das Innenministerium, das Verbraucherministerium und das Justizministerium gingen wochenlang mit unterschiedlichen Stimmen in die Öffentlichkeit. Zwischenzeitlich schaltete sich auch die Bundeskanzlerin ein und beauftragte Kanzleramtsminister Ronald Pofalla, eine Linie zu Google Street-View vorzubereiten. Bundesinnenminister Thomas de Maizière tat das einzig Richtige in dem er ankündigte, die Themen Datenschutz und Internet grundsätzlich anzugehen. Das wird in diesem Herbst geschehen.

Es ist schon grotesk und zeigt eine gewisse Hilflosigkeit, dass führende Politiker in den Medien bekannt geben, dass sie von dem Widerspruchsrecht bei Google Street View Gebrauch machen, um ihre privaten Häuser nicht im Internet abgebildet zu sehen. Sollte man von ihnen nicht eher verlangen, ihren Job zu machen und rechtliche Rahmenbedingungen zu schaffen, die sowohl den unternehmerischem Interessen als auch dem Datenschutz der Bürger Rechnung tragen, anstatt sich den Sorgen der Bürgerinnen und Bürgern anzubiedern?

Wir müssen aufpassen, dass wir vor lauter Aktionismus den öffentlichen Raum nicht verschließen. Damit bedrohen wir die Freiheit als elementares Gut einer aufgeklärten Gesellschaft. Nach Aussagen der Berliner Justizsenatorin prüfen Beamte in den Senatsverwaltungen, welche Gebäude im Internet auftauchen dürfen und welche nicht. Das ist ein falscher Weg. Öffentliche Gebäude heißen die Gebäude deswegen, weil sie öffentlich zugänglich sind oder eine entsprechende Funktion haben. Warum sollen plötzlich Rathäuser, Schwimmbäder, Feuerwehrhäuser, Jugendzentren und Schulen die alle keine “Persönlichkeitsrechte” darstellen, in der digitalen Welt nicht abgebildet werden können? Es ist im allgemeinen Interesse, dass diese Gebäude gefunden werden können. Das Bayerische Landesamt für Datenschutz sagt deshalb zu Recht, dass es beim Datenschutz um das allgemeine Persönlichkeitsrecht geht, das natürlichen Personen zusteht, nicht aber juristischen Personen des öffentlichen Rechts. Danach können eine Löschung ihrer Gebäude nur einzelne Bürger verlangen, nicht aber Kommunen.

Die heutigen Regelungen des Datenschutzes stammen aus der Steinzeit der Datenverarbei-tung. Viele aktuelle Grundfragen bleiben unbeantwortet, geschweige denn werden sie überhaupt gestellt. Notwendig sind internationale Mindeststandards. Datenschutz ist längst ein Thema für die G-8 oder G-20 Gipfeltreffen. Letztlich geht es um die Abwägung von Freiheitsrechten in einer globalen nicht kodifzierten Weltordnung. Solange es internationale Stan-dards nicht gibt, solange sollte man auf dem Verhandlungswege sich zusammen finden.

Das Thema Netzpolitik macht deutlich wie wichtig es ist, eine ganzheitliche Politik zu praktizieren. Ganzheitliche Politik und Ressortdenken passen oftmals nicht zusammen. Ein themenbezogener Politikansatz – der nicht nach Ebenen und differenzierten Zuständigkeiten fragt – bringt mehr Service, mehr Qualität und mehr Effizienz. Die Welt der Vernetzung wird den Staat in seiner Organisationsstruktur neu herausfordern. Die Transformation zu einer Netzwerkregierung und einer durchgängigen Netzwerkverwaltung hat Deutschland noch vor sich. [/b]